NZZ am Sonntag

«Habe Mühe mit dem Gejammer»

Die oberste Bildungsdirektorin Silvia Steiner sagt, in der Bildung sei Sparen ohne Qualitätsverlust möglich. Die Schule dürfe nicht auf die Schwächsten ausgerichtet werden.

René Donzé
Drucken
Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Frau Steiner, über die Schule wird viel gestritten, zum Beispiel über den Lehrplan 21 oder Fremdsprachen. Nun werden Sie Präsidentin der Erziehungsdirektoren und stehen im Zentrum solcher Diskussionen. Halten Sie gerne den Kopf hin, wenn etwas krummläuft?

Das ist natürlich nicht mein grösster Wunsch. Aber es ist mir bewusst, dass es in der Schweiz eine Tendenz zum Bildungs-Bashing gibt. Das liegt daran, dass die Leute oft aus einer subjektiven Betroffenheit heraus argumentieren.

Objektiv belegbar ist die Leseschwäche der Schweizer Schüler. Laut Pisa-Studie hat jeder fünfte 15-Jährige Mühe, einen Text zu verstehen. Die EDK zweifelt die Qualität der Studie an. Wollen Sie vom Problem ablenken?

Das mag auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Ablenkungsmanöver erscheinen, ist es aber nicht. Wir zweifeln ja auch die guten Resultate in der Mathematik an, nicht bloss die schlechten beim Lesen. Es ist schwierig, aufgrund der neuen Pisa-Daten Aussagen zu machen. Was wir wissen: Bei Pisa 2012 lag der Anteil der leseschwachen Jugendlichen bei 14 Prozent. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass wir ein Problem bei den Lesekompetenzen haben.

Woran liegt das?

Ein grosser Teil der schwachen Schüler sind spät Zugewanderte. Ihre Fremdsprachigkeit ist ein Problem. Probleme haben aber auch Kinder, die in schwierigen sozialen Verhältnissen aufwachsen, sowie Kinder mit einer Lernschwäche. In all diesen Bereichen müssen wir grosse Anstrengungen unternehmen. Da sind wir auch schon lange dran.

Gebracht hat es noch nicht viel.

Das ist eben das Problem in der Bildungspolitik: Schwächen werden zwar sofort erkannt und kritisiert, doch bis Massnahmen greifen, dauert es Jahre. Das System ist träge. Und wir werden immer wieder zurückgeworfen durch Ereignisse, die die Schule nicht beeinflussen kann. Wenn mehr Flüchtlinge in die Schweiz kommen oder die Geburtenrate in der Schweiz steigt, hat das Auswirkungen auf die Schule. Zum Glück können wir auf gute Lehrerinnen und Lehrer zählen, die eine tolle Arbeit machen. Sie sind als Erste mit den Problemen konfrontiert und wissen am besten, was gut ist für ihre Schüler.

Und doch hören Sie nicht auf die vielen Lehrer, die sagen, die Primarschüler seien überfordert mit zwei Fremdsprachen, sie müssten zuerst richtig Deutsch lernen.

Im Einzelfall mag das ja stimmen. Doch als Systemkritik ist es zu einseitig. Wenn wir in der Primarschule Lektionen für Fremdsprachen abbauen würden, müssten wir umso mehr auf der Oberstufe einplanen. Das liegt gar nicht drin. Die Stundentafel, die definiert, auf welcher Stufe was unterrichtet wird, ist ein komplexes Gebilde, an dem man nicht ohne Not grosse Veränderungen vornehmen sollte. Darum hoffe ich auch auf ein klares Nein bei der Abstimmung über die Fremdsprachen-Initiative im Kanton Zürich.

Hand aufs Herz: Mit zwei Lektionen Französisch in der Woche lernen Primarschüler sowieso nichts Gescheites.

Ebenfalls Hand aufs Herz: Trauen Sie den Lehrern nichts zu? Ich bin überzeugt, dass sie einiges erreichen können. Dafür müssen sie aber vernetzt denken und nicht bloss auf die einzelnen Fächer schauen. Französisch ist für mich ein Querschnitt-Fach.


Digital-Abonnement der «Neuen Zürcher Zeitung» - abo.nzz.ch


Was heisst das?

Die Lehrer müssen auch einmal in einer anderen Lektion Französisch reden oder ein französisches Lied singen. Die Fremdsprache sollte in andere Fächer integriert werden, dann wird sie auch lebendig.

Da haben Sie aber eine sehr hohe Meinung von den Fähigkeiten der Primarlehrerinnen.

Und hohe Erwartungen. Ja.

Ist es nicht generell so, dass die Kinder heute zu viel lernen und können müssen, viel mehr als früher – als Sie und ich zur Schule gingen?

Natürlich ist das Mass für einige Schüler übervoll, da gebe ich Ihnen recht. Und ich verstehe auch Lehrer, die sagen: ‹Halt, stopp, sichern. Mehr geht nicht!› Aber dann reden wir wieder nur von den 20 Prozent schwachen Schülern und vergessen die anderen 80 Prozent. Ich glaube, dass wir diese 20 Prozent individuell fördern müssen oder teilweise auch von Lernzielen befreien sollten. Wenn wir für alle das Niveau senken oder eine Fremdsprache streichen würden, wäre das ein Rückschritt. Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen in der Schule ging. Mich jedenfalls hat es gottvergessen genervt, dass ich erst in der Oberstufe Französischunterricht hatte und erst im dritten Gymi Englisch. Ich hätte das lieber früher gelernt. Viele Ressourcen sind damals einfach brachgelegen.

Ich nehme an, Sie waren eine gute Schülerin.

Es geht. Ich hatte viele Interessen, die mich vom Lernen abhielten. In der Schule war ich eine Minimalistin.

Aber Sie haben eine sehr schnelle Auffassungsgabe, wie Ihre Karriere zeigt.

Das ist so – sofern mich etwas interessiert. Aber das ist doch bei allen Menschen so. Und genau an diesem Punkt müssen wir in der Schule ansetzen, bei der Lernfreude und beim Interesse der Kinder.

Ist nicht gerade die das Problem? Die Schule wird von einer schnell denkenden Elite definiert. Sie kann nicht nachfühlen, wie es ist, wenn man Dinge einfach nicht begreift.

Das kann sein. Intelligenz heisst aber auch, dass man sich in andere einfühlen und sie verstehen kann. Nochmals: Wir dürfen nicht das ganze System auf die schwächsten 20 Prozent der Schüler ausrichten. Was machen wird dann mit den anderen 80?

So, wie es heute läuft, wird jeder fünfte Schüler zum Verlierer.

Das stimmt nicht, jeder fünfte Schüler hat zwar mit dem Schulstoff Probleme, daran müssen wir arbeiten. Doch wir wollen nicht zurück zu Gotthelfs Zeiten, wo schon ein Held war, wer etwas lesen konnte. Die Anforderungen der Gesellschaft und der Wirtschaft steigen stetig. Das ist kein elitärer Ansatz, sondern ganz einfach Realität. Unser Schulsystem muss dafür sorgen, dass unsere Kinder gut gebildet werden, und dafür muss es hohe Ansprüche stellen. Es wird immer Schüler geben, die diese nicht erfüllen. Diese Schüler dürfen wir nicht hängenlassen. Wir müssen sie ins Berufsleben integrieren, da trägt die Schule eine grosse Verantwortung. Die Wirtschaft muss aber auch Berufslehren für schwache Schulabgänger anbieten, das sage ich den Wirtschaftsvertretern immer wieder in unseren regelmässigen Treffen.

Sie übernehmen die EDK in einer Zeit, in der viele Kantone sparen, auch in der Bildung. Das kann Ihnen doch keinen Spass machen.

Natürlich ist Sparen nicht sehr lustvoll. Aber ich habe Mühe mit dem allgemeinen Gejammer über Bildungsabbau. Man muss überall in der Verwaltung optimieren und Ressourcen bestmöglich ausnutzen. Das ist auch in der Bildung möglich und nötig. Und zwar ohne Qualitätsabbau.

Im Februar stimmen wir über die Unternehmenssteuerreform ab. Der Lehrerverband Schweiz warnt vor weiteren Sparrunden in der Bildung. Befürchten Sie das auch?

Nein. Ich bin überzeugt, dass die Reform unseren Wirtschaftsstandort stärkt, davon profitiert auch die Bildung.

Wenn wir weniger Geld in den Kassen haben?

Wir werden auf lange Sicht nicht weniger Steuern einnehmen. Natürlich berechnen jetzt die Gegner solche Ausfälle. Aber ich bin mir sicher, dass diese kompensiert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass wir für Firmen ein attraktiver Standort bleiben. Die Internationalität ist wichtig, sie sichert uns auch gute Forschung.

Braucht es mehr Maturanden? Oder halten Sie es mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann, der lieber weniger, dafür bessere hätte?

Aus meiner Sicht ist die Quote mit rund 20 Prozent gymnasialen Maturanden recht gut. Steigerungspotenzial sehe ich bei den Berufs- und Fachmaturanden.

Die Hochschulen beklagen sich darüber, dass viele Gymnasiasten nicht gut genug gerüstet sind fürs Studium.

Wir haben bereits Massnahmen eingeleitet, um die Studierfähigkeit der Maturanden zu verbessern. Und ich erwarte von den Rektoren der Mittelschulen auch, dass sie die Studierfähigkeit ihrer Schulabgänger prüfen. Generell müssen sich unsere Gymnasien aber nicht verstecken. Die Aussagen von Herrn Schneider-Ammann sind geprägt von der Sicht der ETH. Es ist klar, dass nicht alle Maturanden fit sind für ein ETH-Studium. Die ETH ist nun wirklich eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Eliteschule.

Wenn Sie in vier Jahren zurückblicken: Was wollen Sie erreicht haben?

Ich bin froh, wenn die Fremdsprachen-Initiativen vom Tisch sind und der Lehrplan 21 eingeführt ist. Zudem hoffe ich, die Berufs- und Fachmaturitätsquote von 17 auf mindestens 20 Prozent steigern zu können. Mein wichtigstes Ziel ist es aber, dass 95 Prozent der 25-Jährigen über mindestens eine Berufsausbildung oder eine Matura verfügen.