Zukunft der Schweizer Gymnasien: «Die Matur ist insgesamt erfolgreich. Es braucht keine Revolution. Aber eine Reform»

In der Schweiz hat die erste Gymnasialreform seit fast 30 Jahren begonnen. Hunderte Experten sind involviert. Der Co-Projektleiter Daniel Siegenthaler erklärt, was Maturandinnen und Maturanden künftig können müssen, welche Inhalte wichtiger werden – und was beim Reizthema Noten passieren soll.

Larissa Rhyn 6 Kommentare
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Wie sehen die Mittelschulen im Jahr 2023 aus? Der Co-Projektleiter Daniel Siegenthaler spricht über die Ziele der grossen Gymnasialreform.

Wie sehen die Mittelschulen im Jahr 2023 aus? Der Co-Projektleiter Daniel Siegenthaler spricht über die Ziele der grossen Gymnasialreform.

Simon Tanner / NZZ

Herr Siegenthaler, Sie haben fast 30 Jahre als Gymnasiallehrer gearbeitet, eine Weile waren Sie zudem Rektor. Worüber haben sich Ihre Schülerinnen und Schüler am häufigsten beklagt?

Dass sie zu wenig selbständig arbeiten und zu wenig Eigeninitiative zeigen konnten. Das hat sich aber in den letzten 30 Jahren stark verbessert.

Das heisst, da sehen Sie keinen Nachholbedarf mehr?

Die Maturarbeit ist ein wichtiges Instrument, das eingeführt wurde, damit sich die Schülerinnen und Schüler in ein Thema vertiefen können, das sie interessiert. Aber es gäbe sicher noch andere Wege, die Eigeninitiative zu fördern.

Sie leiten das Grossprojekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität». Unter anderem soll ein neuer Rahmenlehrplan entstehen. Der heutige stammt von 1994. Wer das hört, hat Verständnis für alle Jugendlichen, die sagen, das Gymnasium sei von gestern.

Deshalb haben wir beim Rahmenlehrplan auch klaren Handlungsbedarf festgestellt. Die Inhalte müssen klarer definiert werden. Die gesellschaftlichen Herausforderungen, die uns in den nächsten 10 bis 20 Jahren beschäftigen, sollten im Unterricht stärker berücksichtigt werden. Insbesondere die überfachlichen Kompetenzen sind wichtiger geworden.

Welche überfachlichen Kompetenzen meinen Sie?

Beispielsweise die Planung und Organisation des Lernens, die Zusammenarbeit mit anderen Schülern, aber auch Eigeninitiative oder Frustrationstoleranz.

Die Universitäten klagen oft, dass den heutigen Maturanden genau diese Fähigkeiten fehlten. Einmal ehrlich: Kommen Sie mit der Reform primär den Professorinnen und Professoren entgegen?

Natürlich wollen wir auch den Bedürfnissen der Universitäten gerecht werden. Sie erwarten zu Recht, dass neue Studierende ihr Lernen selbst organisieren und reflektieren können und Ausdauer haben. Schülerinnen und Schüler sollten aber auch Interesse an der Sache entwickeln und wissen, was sie wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Schweizer Gymnasien die richtigen Bedingungen dafür bieten.

Das klingt gut – in der Theorie. Aber den Gymnasien wird vorgeworfen, die Schüler lernten nur noch, wie man in kurzer Zeit möglichst viel Stoff auswendig lernt. Wer die Matura schaffe, könne zwar büffeln, aber keine Zusammenhänge erkennen. Was sagen Sie dazu?

Die Universitäten setzen für jedes Fach eine gewisse Stoffmenge voraus. Die Gymnasien müssen diese Inhalte vermitteln, damit die Maturanden bereit sind fürs Studium. Und das geht nicht ohne Auswendiglernen. Die anspruchsvolleren Kompetenzen sind aber mindestens so wichtig, das heisst Anwenden, Analysieren, Beurteilen und Entwickeln. Unser Ziel ist es, mit der Reform einen guten Mittelweg zu finden zwischen breitem Wissen und Spezialisierung.

Zurück zu den Lehrplänen: Was soll da auf nationaler Ebene bestimmt werden, was in jedem Gymnasium?

Vereinfacht gesagt, halten wir im Lehrplan Ziele fest, die überall gelten. Die Umsetzung erfolgt dann in den Kantonen und Schulen. Es werden Rahmenlehrpläne für jedes Fach formuliert und Richtlinien zu anderen Themen vorgegeben, beispielsweise zu den gesellschaftlichen Herausforderungen. Namentlich sind das politische Bildung, nachhaltige Entwicklung und Digitalisierung.

Das heisst, es ist nicht denkbar, dass es für diese drei zentralen Themen eigene Fächer gibt?

Nein, denn hier geht es um die Verknüpfung von Wissen aus verschiedenen Themenbereichen. Politische Bildung sollte beispielsweise in Geschichte, Geografie, Wirtschaft und Recht, aber auch in anderen Fächern gelehrt werden. Zusätzlich gibt es viele andere Möglichkeiten, das politische Interesse und Verständnis der Jugendlichen zu fördern. Ich denke da an Schülerorganisationen, Themenwochen oder an Workshops, wo beispielsweise ein Gesetzgebungsprozess simuliert wird.

Derzeit gibt es 13 Maturafächer. Werden künftig Fächer abgebaut?

Zu Beginn des Projekts gab es eine Auslegeordnung. Da hat man entschieden, dass wir grundsätzlich an den Fächern festhalten wollen, die heute schon im Maturitätsanerkennungsreglement stehen. Sie haben sich bewährt.

Seit Jahren wird kritisiert, dass es zu viele Fächer gebe, was dazu führe, dass die Inhalte nicht vertieft werden könnten. Einige wollen Fächer gleich ganz abschaffen. Ignorieren Sie diese Stimmen?

Wir diskutieren darüber, ob eine stärkere Spezialisierung möglich wäre. Aber wir halten sicher am Fächer-Prinzip fest. Fächer sind nötig, um die Bildungsziele zu erreichen. Diese Ziele bleiben die gleichen: die allgemeine Studierfähigkeit und die vertiefte Gesellschaftsreife.

Ist es denn wirklich nötig, dass mich eine Matura für sämtliche Studiengänge vorbereitet? Ich könnte doch auch mit 15 entscheiden, dass ich mich auf Naturwissenschaften konzentrieren will. Und es dann beim Grundlagen-Französisch belassen.

Die schweizerische gymnasiale Maturität zeichnet sich durch eine grosse Breite aus. Im internationalen Vergleich ist dies eine Eigenheit. Maturanden sollen weiterhin zwischen vielen verschiedenen Studienrichtungen wählen können. Wir wollen aber eine Balance erreichen zwischen der allgemeinen Studierfähigkeit und den Interessen der Schülerinnen und Schüler. Sie sollen die Möglichkeit haben, am Gymnasium auch das zu lernen, was sie interessiert. Das ist heute schon möglich. Die Schwerpunkt- und Ergänzungsfächer sind positive Elemente der bestehenden Matur. Darum wollen wir sie beibehalten.

Wegen der Breite der hiesigen Matura gehen der Schweizer Wirtschaft aber auch Talente durch die Lappen. Sie können nicht an den Universitäten studieren, weil sie eine einseitige Begabung haben.

Zentral ist vor allem die Frage, wer überhaupt ans Gymnasium kommt. Dies müssen die Kantone klären. Im Gymnasium selbst geht es darum, dass ungenügende Noten kompensiert werden können. Damit wollen wir Personen mit einer Hochbegabung den Zugang zur Maturität nicht versperren. Aber gewisse Grundkompetenzen braucht es für alle Studiengänge. Dies gilt sicher für Mathematik und die Erstsprache, aber vermehrt auch für Englisch und Informatik. All diese Punkte unter einen Hut zu bringen, ist keine einfache Aufgabe.

Haben die Schülerinnen und Schüler künftig noch mehr Lektionen?

Nein, die totale Unterrichts- und Lernzeit soll nicht geändert werden. Die Aufteilung der Lektionen ist Sache der Kantone.

Bisher haben wir vor allem über den Lehrplan gesprochen. Welches sind denn die anderen Bereiche, die bei der Gymnasialreform überarbeitet werden?

Beim Rahmenlehrplan geht es primär um Inhalte. Daneben gibt es zwei weitere Pfeiler, die wir erneuern: Die Maturitätsanerkennungsregelung und -verordnung, wo die Strukturen im Vordergrund stehen. Und die Governance beziehungsweise die Frage, welche Bildungsgremien auf nationaler Ebene welche Aufgaben haben. Bei der letzten Reform vor 30 Jahren hat man zuerst die Inhalte festgelegt und dann die Struktur. Und wir sehen heute: Das passt nicht wirklich zusammen. Darum überarbeiten wir Struktur und Inhalte dieses Mal parallel und koordinieren sie.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen, was Sie mit Strukturen meinen?

Wir geben beispielsweise vor, dass im Gymnasium eine selbständige Arbeit, die Maturarbeit, geschrieben werden muss. Wie das umgesetzt wird, ist den Kantonen überlassen. Teilweise werden Schülerinnen und Schüler während eines Jahres mit Projektunterricht auf die Maturarbeit vorbereitet, andernorts erhalten sie während des Schreibens mehr Unterstützung.

Wie viel Gegenwind spüren Sie als Co-Projektleiter?

Bis anhin wenig. Von Anfang an waren alle wichtigen Gremien beim Projekt dabei: natürlich die Träger, also die Erziehungsdirektorenkonferenz und das Wirtschaftsdepartement, die Mittelschulämter, die Rektorenkonferenz, der Verband der Gymnasiallehrer, die Maturitätskommission und Swissuniversities. Alle Akteure bringen ihre Perspektiven und auch Bedenken ein, das ist klar. Aber sie sind konstruktiv formuliert. Ich glaube, es lohnt sich, dass alle Akteure integriert sind in den Prozess.

Wo viele Akteure involviert sind, will jeder seine Interessen sichern. Ist es unter diesen Umständen überhaupt möglich, all die Änderungen durchzusetzen, die 30 Jahre nach der letzten Reform nötig sind?

Die gymnasiale Maturität ist insgesamt erfolgreich. Es braucht keine Revolution. Aber eine Reform. Denn dass es Handlungsbedarf gibt, hat sich schon früh im Projekt gezeigt. Im politischen System der Schweiz sind wir auf die Beteiligung aller wichtigen Akteure angewiesen. Sie sind Träger des Prozesses, das heisst, sie müssen einerseits bei den Konzepten mitwirken und andererseits deren Umsetzung sichern.

Vor kurzem wurde in einer Klausur der neue Rahmenlehrplan ausgearbeitet. Wie sieht er aus?

Entschieden ist noch nichts. Bei der Klausur sind hundert Expertinnen und Experten zusammengekommen, drei oder vier pro Fach. Wir haben auf eine gleichmässige Vertretung der Geschlechter und der Sprachregionen geachtet. Die meisten Leute kannten sich vorher nicht. Das war eine grosse Herausforderung. Es fängt bei kleinen Dingen an. Das Fach «Sport» heisst in der Romandie «Education physique et sportive». Da muss man zuerst klären, welchen Begriff man verwendet, und dann alle Dokumente in verschiedenen Sprachversionen ausarbeiten. Da wurde teilweise bis Mitternacht gearbeitet. Entstanden sind erste Entwürfe für die Fachlehrpläne. Diese werden im Frühling 2021 intern konsultiert und in der zweiten Jahreshälfte in einer erneuten Klausur überarbeitet. Im Frühjahr 2022 gibt es dann eine Vernehmlassung.

In der Corona-Krise konnte plötzlich nur noch Fernunterricht stattfinden. Viele Gymnasien machten im Bereich Digitalisierung einen grossen Sprung. Fliessen diese Erfahrungen in die Reform ein?

Eine Arbeitsgruppe setzt sich damit auseinander, was die Digitalisierung für die Gymnasien bedeutet und welchen Stellenwert sie im Unterricht haben soll. Ich gehe davon aus, dass dort auch Erkenntnisse aus der Corona-Krise diskutiert werden. Es muss jedoch nicht alles auf der gesamtschweizerischen Ebene geregelt werden. Das gilt übrigens auch für andere Bereiche, wo in der Analyse zu Beginn des Projekts Handlungsbedarf festgestellt wurde, zum Beispiel bei der Lern- und Prüfungskultur und hinsichtlich der Chancengerechtigkeit. Dort gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen beim Übertritt von der Volksschule ans Gymnasium. Doch dafür sind die Kantone zuständig.

Es sollte aber am Ende nicht vom Wohnkanton abhängen. Doch genau dies ist der Fall: Heute gibt es enorme Unterschiede bei den Maturitätsquoten. Wäre es da nicht an der Zeit, nationale Vorgaben zu definieren?

Die Vergleichbarkeit der Anforderungen verschiedener Gymnasien soll mit der gegenwärtigen Reform erhöht werden. Deshalb wollen wir ja auch die Lerninhalte klarer definieren. Aber die Maturitätsquote ist in erster Linie ein Ergebnis von Bildungsprozessen und des lokalen Kontexts. Eine bestimmte Maturitätsquote vorzugeben, wäre daher nicht sinnvoll.

In der Tendenz gilt: Je höher der Anteil der Jugendlichen, die in einem Kanton die Matura machen, desto mehr brechen später ihr Studium eher ab. Für die Fehlsemester bezahlen die Steuerzahler. Da gibt es doch ein nationales Interesse, gewisse Mindestanforderungen zu stellen.

Natürlich ist es unser Ziel, dass diejenigen Leute an die Uni gehen, die ihr Studium erfolgreich bewältigen können. Deshalb werden nun die grundlegenden Kompetenzen in der Erstsprache und in Mathematik in die Fachlehrpläne integriert. Auch in Geschichte braucht man schliesslich die deutsche, französische oder italienische Sprache. Daneben spielt aber auch die Studien- und Laufbahnberatung eine wichtige Rolle. Hier sollten alle Gymnasien einen Schwerpunkt setzen, damit Maturanden einen Studiengang wählen, in dem sie auch Erfolg haben.

Philippe Wampfler, der ebenfalls an der Gymnasialreform beteiligt ist, hat kürzlich in einem Gastartikel in der «NZZ am Sonntag» geschrieben, die Gymnasien seien viel zu stark durchstrukturiert. Es bleibe kaum Platz für individuelles Lernen. Was sagen Sie dazu?

Da muss man vorsichtig sein. Bei der Lern- und Prüfungskultur gibt es zwar teilweise Reformbedarf. Aber es wäre falsch, den Schulen vorzuwerfen, sie vernachlässigten individuelles Lernen. Je nach Schule gibt es beispielsweise Selbstlernsemester oder projektartiges Lernen. Ich sehe das nicht als Schwäche, sondern als Stärke des föderalistischen Systems. Die Schulen sind Motoren von Innovation.

Selbstlernsemester sind aber gerade ein Beispiel dafür, dass die Übernahme solch innovativer Projekte eher schlecht funktioniert. Die Kantonsschule Zürcher Oberland hat vor Jahren damit angefangen und gute Erfahrungen gemacht. Trotzdem hat sich die Idee nicht einmal im Kanton Zürich breit durchgesetzt.

Wie viele Schulen in der Schweiz Selbstlernsemester haben, weiss ich nicht. Aber es gibt ja auch andere Formen des selbständigen Lernens, wie beispielsweise Themenwochen. Kantone und Schulen sollen einen Handlungsspielraum haben. Das kann man nicht einfach von oben verordnen.

Ein Reizthema sind die Noten. Da reichen die Forderungen von der Abschaffung bis hin zu einer strengeren Regelung bei der Kompensation. Was wird die Reform hier ändern?

Wir diskutieren nicht über die Abschaffung der Noten. Sondern eher darüber, welche Noten für die Matura zählen sollen. Oder welche Leistungen jemand erbringen muss, um die Matura zu bestehen. Im Grundsatz erreichen die Maturandinnen und Maturanden zwar heute schon die Ziele. Doch es gibt Defizite. Wir müssen uns daher fragen, ob die heute geltenden Bestehensnormen angemessen sind für das Erreichen der Ziele.

Wer eine ungenügende Note hat, muss sie heute doppelt kompensieren. Für eine 3,5 in einem Fach braucht es also eine 5 in einem anderen. Heisst das, dass die Regel nun noch strenger wird?

Es ist noch offen, ob und wie wir die Kompensationsregel anpassen.

Wann werden die neuen Lehrpläne und Strukturen eingeführt?

Am 1. August 2023. Ab dann müssen die Kantone die neuen Regeln umsetzen.

6 Kommentare
Christoph Landolt_46548

Warum ist Mathematik «für alle Studiengänge wichtig»? Praktisch alles, was ich dort mit grösstem Ach und Krach lernen musste, habe ich in meinem späteren Studium auch nicht einmal am Rande gebraucht. Ich bin nach wie vor dafür, Begabungen im Gymnasium stärker zu fördern und Missbegabungen stärker in den Hintergrund treten zu lassen. Auf diese Weise wäre ich für mich mein Studium viel besser gerüstet gewesen. Die Ausbildung in aller Breite ist zwar ein Ideal, aber eben auch nicht mehr.

Daniel Heierli

Es tönt schon einmal gut, dass keine Revolution angestrebt wird, sondern "nur" eine Reform. Schon heute ist eine beträchtliche "Spezialisierung" bereits vor der Matur faktisch vorhanden. Wer in Mathematik und Naturwissenschaften gerade so knapp die Vorgaben erfüllen kann, ist für ein entsprechendes Studium an der Hochschule nicht gerüstet. Und wer in Französich mangels Talent immer Tiefnoten gesammelt hat, sollte sich lieber nicht für Romanistik einschreiben. Es ist möglich, dass einige Talente vom Gymi ausgeschlossen werden, weil eine gewisse Breite gefordert wird. Zum Glück kann man in der Schweiz auch ohne Matura und Hochschulabschluss Karriere machen. Das ist in meinen Augen der wichtigste Beitrag zur Chancengerechtigkeit!